19.05.2025 | Über die Versorgungssicherheit hinaus

Gas wird in Europa noch einige Zeit eine Schlüsselrolle spielen

Marco Saalfrank, Head of Merchant Trading bei Axpo, gibt im Interview faszinierende Einblicke in die Welt des Gashandels – von der aktiven Rolle Axpos im globalen Gas-Markt über ihren Beitrag zur Versorgungssicherheit in Europa bis hin zum Potenzial von Biogas und Biokraftstoffen als klimafreundliche Alternativen zu fossilen Brennstoffen.

 

Wie lange arbeitest du schon im Gashandel der Axpo?

Ich begann meine Karriere bei Axpo Solutions, damals bekannt als EGL, im Oktober 2001. Zu dieser Zeit stellte EGL Italia ein Gas-Team zusammen, um die Gasversorgung für geplante Kraftwerke in Italien aufzubauen und zu verwalten.  Ich unterstützte das italienische Gas-Team von unserem Hauptsitz aus – das war mein erster Kontakt mit dem Gasgeschäft.

2008 wurde mir die Verantwortung für den Gashandel übertragen. In den folgenden Jahren erweiterte sich mein Aufgabenbereich um die Verwaltung langfristiger Gasliefer- und Speicherverträge, den LNG-Handel und die Realisierung unserer Beteiligung am Trans-Adriatic-Pipeline (TAP) Projekt.

Warum ist Gas immer noch ein wichtiger Energieträger? 

Nach Öl und Kohle ist Gas mit einem Anteil von rund 24 Prozent am globalen Energieverbrauch der weltweit am dritthäufigsten genutzte Brennstoff. Im Gegensatz zu Öl und Kohle wächst dieser Anteil derzeit noch – hauptsächlich aufgrund der laufenden Energiewende. Bevölkerungswachstum, wirtschaftliche Expansion und Industrialisierung sind weitere wichtige Faktoren für den Anstieg des Gasverbrauchs, insbesondere in Asien.

Warum spielt Gas eine so wichtige Rolle bei der Energiewende?

Die Stromerzeugung aus Gas verursacht 40 bis 60 % weniger CO₂-Emissionen als Kohlekraftwerke. Es ist daher wenig überraschend, dass viele Länder ihre Emissionen vorrangig durch eine Umstellung von Kohle- auf Gaskraftwerke senken wollen. Diese Umstellung ist in Europa in vollem Gange – hier wurden in den letzten Jahren bis zu 70 GW an Kohlekraftwerken stillgelegt und durch erneuerbare Energien und Gaserzeugung ersetzt. Ein ähnlicher, aber deutlich grösserer Trend ist in Asien zu beobachten, was auch den erheblichen Anstieg der Gas- und LNG-Importe in der Region erklärt.

Darüber hinaus wurde in Europa ein Grossteil der konventionellen Stromerzeugung – einst auf Kernkraft und Kohle basierend – durch intermittierende erneuerbare Energiequellen wie Wind und Sonne ersetzt. Auch wenn dies aus Umweltsicht positiv ist, so sind Wind- und Solarenergie deutlich weniger planbar als die abgeschalteten konventionellen Anlagen.

Daher steigt der Bedarf an Backup-Lösungen, um die Zeiten zu überbrücken, in denen weder Wind weht noch Sonne scheint, sowie um tägliche Schwankungen bei der erneuerbaren Stromerzeugung auszugleichen. Aus diesem Grund werden flexible konventionelle Lösungen, kombiniert mit Batterien zur kurzfristigen Speicherung, weiterhin essenziell bleiben. Gas wird dabei eine entscheidende Rolle spielen. Deutschland plant zum Beispiel den Bau mehrerer zusätzlicher GW an Gaskraftwerken an strategischen Standorten, um diesen Herausforderungen zu begegnen.

Welche Rolle spielt Gas für die Energiesicherheit in Europa und der Schweiz?

Seit Beginn des Ukraine-Kriegs hat Russland seine Gaslieferungen nach Europa um etwa 100 Milliarden Kubikmeter reduziert – das entspricht über 20 % des gesamten europäischen Gasbedarfs.

Der anschliessende Anstieg der Gaspreise zog grosse Mengen an LNG nach Europa. Gepaart mit sehr milden Wintern, die den Gasbedarf erheblich senkten, konnte so der Ausfall russischer Lieferungen kompensiert werden. Dennoch bleibt die Lage in Europa angespannt.

Die Schweiz hat mit 3 bis 4 Milliarden Kubikmetern pro Jahr einen vergleichsweise kleinen Gasbedarf – etwa ein Prozent des europäischen Gesamtbedarfs – verfügt aber weder über eigene Gasproduktion noch über Speicher. Sie ist daher stark auf Nachbarländer wie Deutschland, Frankreich und Italien angewiesen. Während der jüngsten Krise ermöglichte Axpo dank ihrer Gas-Expertise den Zugang zu gespeichertem Gas in Italien und unterstützte einige Schweizer Energieversorger mit Lieferungen über die TAP-Pipeline. 

Kannst du die Unterschiede zwischen LNG und Erdgas erklären?

Wenn Erdgas auf etwa minus 160 °C bei Normaldruck abgekühlt wird, verflüssigt es sich zu LNG (Liquefied Natural Gas). Diese Flüssigkeit benötigt nur etwa 1/600 des Volumens von gasförmigem Erdgas. LNG ist geruchslos, farblos, nicht korrosiv, nicht explosiv und ungiftig.

LNG wird vor allem verwendet, um Erdgas über sehr grosse Distanzen – insbesondere über See – zu transportieren. Das Gas wird in sogenannten Verflüssigungsterminals verflüssigt, per Schiff transportiert und in Regasifizierungsanlagen wieder in Erdgas umgewandelt.

Die wichtigsten LNG-Exporteure sind die USA, Katar und Australien – sie decken zusammen etwa zwei Drittel des weltweiten Bedarfs. Hauptimporteure sind Japan, China, Südkorea und Indien. Seit 2022 ist auch Europa ein bedeutender LNG-Importeur geworden und konkurriert nun mit Asien um die Versorgung.

Warum war LNG in den letzten Jahren so stark nachgefragt?

Der Fortschritt der Energiewende hat weltweit zum Rückgang des Verbrauchs konventioneller Brennstoffe geführt. Diese werden zunehmend durch erneuerbare Energien und Erdgas ersetzt werden. Ein weiterer Treiber für die steigende weltweite Gasnachfrage ist das anhaltende Bevölkerungswachstum, das den Energiebedarf insgesamt – auch beim Erdgas – weiter steigen lässt. Diese Faktoren haben die Gasnachfrage, insbesondere in Asien, erhöht und damit auch das LNG-Handelsvolumen steigen lassen.

Auch die Versorgungssicherheit spielt dabei eine wichtige Rolle. Der Krieg in der Ukraine und Russlands Lieferstopp haben die Suche nach alternativen Gasquellen vorangetrieben. Doch diese sind begrenzt. Europa musste seinen Verbrauch senken und gleichzeitig das LNG-Angebot steigern.

Welche Herausforderungen siehst du für den Gasmarkt und -handel in den nächsten 10 bis 15 Jahren?

Der Gasmarkt befindet sich im Umbruch.

In den nächsten zehn Jahren wird trotz Bevölkerungswachstum und Industrialisierung weltweit ein Rückgang der Gasnachfrage erwartet, da die erneuerbare Stromerzeugung zunimmt und Gas effizienter genutzt wird. Der asiatisch-pazifische Raum wird weiterhin die dominierende Importregion bleiben.

Auf der Angebotsseite wird die Erdgasproduktion weiter steigen. Die USA dürften führender LNG-Produzent und -Exporteur werden, da sie ihre Verflüssigungskapazität in den nächsten fünf Jahren nahezu verdoppeln wollen.

In Europa ist aufgrund der Energiewende bereits ein Rückgang der Gasnachfrage zu beobachten. Dennoch wird Gas weiterhin eine wichtige Rolle als Backup-Kapazität und zur Marktstabilisierung spielen. Da die europäische Eigenproduktion abnimmt, bleibt Europa auf Importe angewiesen. Wie stark die Abhängigkeit von LNG sein wird, hängt davon ab, ob russisches Gas wieder eine Option wird – und in welchem Umfang.

Zusätzlich wird die Energiewende zu einem stärkeren Fokus auf Biogas führen – wie schnell das geschieht, ist jedoch noch unklar.

Beeinflussen externe Ereignisse die Gaspreise und -märkte?  

Durch LNG ist Erdgas zu einer globalen Commodity geworden, die Gasmärkte weltweit miteinander verbindet.

Der LNG-Markt – und damit auch der gesamte Gasmarkt – wird von einer Vielzahl externer Faktoren beeinflusst: Wetterbedingungen, Anlagenausfälle, Engpässe im Transport, geopolitische Spannungen oder auch Sabotageakte auf Infrastrukturen wie Nord Stream 1 und 2.

Wie bereits erwähnt, ist Europa seit Beginn des Ukraine-Kriegs stark auf LNG angewiesen. Jedes dieser Ereignisse kann erhebliche Auswirkungen auf die Gaspreise haben. Allein die Möglichkeit solcher Vorfälle führt zu hoher Preisvolatilität – ein Phänomen, das wir derzeit beobachten. Wir rechnen damit, dass dies bis zur Inbetriebnahme neuer LNG-Anlagen – voraussichtlich 2026/2027 – so bleiben wird. Bis dahin dürfte der europäische Markt angespannt bleiben.

Wie beurteilst du das Potenzial von Biokraftstoffen und Biogas als Ersatz für Gas aus fossilen Brennstoffen?  

Das Potenzial ist riesig. Die grössten Treibhausgasemissionen stammen aus der Stromerzeugung, dem Verkehr, der Industrie und der Landwirtschaft. Bisher lag der Fokus der Emissionsreduktionen auf der Stromerzeugung, aber nun rücken auch der Verkehr und die Industrie zunehmend in den Fokus von Politik und Regulatoren.

In der Industrie gibt es grosses Potenzial, Biokraftstoffe und Biogas als Rohstoffe zu verwenden. Sie bieten Alternativen zu fossilen Brennstoffen, reduzieren Abfälle und tragen zur Dekarbonisierung in verschiedenen Sektoren bei.

Im Verkehr sind Batterien zwar eine gute Lösung für leichte Fahrzeuge, für schwere Fahrzeuge, Schiffe und Flugzeuge jedoch noch nicht praktikabel – hauptsächlich wegen ihres Gewichts und Platzbedarfs. Deshalb werden alternative Kraftstoffe wie Biogas, Methanol, Ammoniak, nachhaltiger Flugtreibstoff (SAF), Wasserstoff und andere geprüft.

Axpo entwickelt bereits Projekte im Bereich Small-Scale LNG, LNG-Bunkering, Wasserstoff und Biogas und prüft auch E-Methanol. Im Handelsgeschäft untersuchen wir derzeit weitere biogene und synthetische Kraftstoffe, bei denen Axpo eine Rolle spielen könnte.

Kannst du einen Überblick über Axpos Engagement im Gassektor geben?

In den letzten 25 Jahren hat sich Axpo von einem Unternehmen, das sich hauptsächlich auf die Stromproduktion in der Schweiz konzentrierte, zu einer internationalen Akteurin im Energiemarkt entwickelt. Axpo ist zu einem führenden Unternehmen im europäischen Gas- und LNG-Markt geworden und beliefert zahlreiche Kunden, welche weiterhin auf den Energieträger angewiesen sind – vom Retail bis hin zur Industrie. Heute ist Axpo im Gassektor in allen Ländern und Regionen Europas sowie in den USA und Asien tätig.

Welche Vorteile bringt Axpo die aktive Teilnahme am globalen Gasmarkt? Und wie beeinflusst der Gaspreis die Strompreise? 

Der Geschäftsbereich Trading und Sales der Axpo erwirtschaftet einen bedeutenden Beitrag mit Erdgas. Das macht den Gasbereich zu einem Erfolgsfaktor für das Unternehmen.

Darüber hinaus ermöglicht unsere Präsenz in ganz Europa und die aktive Teilnahme am globalen LNG-Markt, dass wir wesentlich zur Versorgungssicherheit in vielen europäischen Ländern beitragen. In den letzten vier Jahren haben wir über 100 LNG-Ladungen in verschiedene europäische Länder geliefert. Axpo hat auch Kunden in der Schweiz durch die Lieferung von nicht-russischem Gas und die Ermöglichung von Gasspeicherungen ausserhalb der Schweiz unterstützt.

Zudem setzen gasbetriebene Kraftwerke typischerweise die Strompreise während Spitzenverbrauchszeiten. Diese stellen im sogenannten „Merit-Order“-Prinzip die teuerste Erzeugungszeit dar. Da Erdgas – insbesondere LNG – immer mehr zu einer globalen Commodity wird, wird der Gaspreis in Europa zunehmend durch weltweite Ereignisse beeinflusst. Um ein umfassendes Verständnis der Funktionsweise von Strom- und Gaspreisen zu erlangen, ist daher eine ganzheitliche Sichtweise erforderlich. Diese Perspektive kann nur durch die Zusammenarbeit mit den wichtigsten Marktteilnehmern und die aktive Teilnahme am globalen Gas- und LNG-Handel erreicht werden.

Dein Job bei Axpo scheint sehr fordernd zu sein. Wie entspannst du dich nach der Arbeit?

Mein Anker ist meine Familie – besonders unsere sechsjährige Tochter. Zeit mit ihr zu verbringen, hilft mir, den Stress des Alltags hinter mir zu lassen und erinnert mich daran, den richtigen Ausgleich zu finden. 

Was Hobbys angeht: Früher war Segeln eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Leider gibt es auf den Seen in meiner Umgebung nicht viel Wind – also, Schande über mich, bin ich auf ein Motorboot umgestiegen. Im Sommer verbringen wir viel Zeit auf dem Wasser, im Winter geniessen wir den Schnee.

Und gibt es etwas, das uns an dir überraschen könnte?

Was euch vielleicht überrascht – vor allem, wenn man bedenkt, dass ich neun Jahre lang in der Physik studiert und geforscht habe – ist, dass ich früher kein besonders vorbildlicher Student war. Im Gegenteil: Ich war viel unterwegs, habe Fussball gespielt und als DJ mit Freunden viele grosse Partys organisiert. Auch eine Karriere als Fussballschiedsrichter habe ich in Betracht gezogen. Leider war ich nicht so erfolgreich wie mein FIFA-Schiedsrichter-Freund, der mich darauf gebracht hat. Aber ich habe viele interessante – und durchaus herausfordernde – Erfahrungen gesammelt, die mir heute im Berufsleben zugutekommen.

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