09.01.2018 | Die Rolle von Axpo im Rahmen der vierten industriellen Revolution
Die Digitalisierung der Kernprozesse von Stromproduktion, Übertragung, Handel, Verteilung und Vertrieb sind weit fortgeschritten. Potenzial und Entwicklungsdynamik im Bereich der digitalen Geschäftsmodelle – mit zum Teil disruptivem Charakter – werden unterschätzt.
Die Digitalisierung ist derzeit das Hype-Thema im Kontext der vierten industriellen Revolution. Sie werde alle Branchen verändern, auch die Strombranche, so die These. In der Diskussion wird dabei die Bedeutung von neuen smarten Technologien betont: Internet der Dinge, Cloud, Social Media, Big Data, Analytics aber auch Sensorik, Robotics und Artificial Intelligence. In der Energiewirtschaft geht es um Schlagwörter wie Smart Metering und Smart Grid. Studien für deren flächendeckenden Rollout wurden ab 2010 in den meisten Ländern Europas verfasst, auch in der Schweiz (1).
Ist die Entwicklung vergleichbar mit jener der Fotoindustrie? Dort wurden, mit der Erfindung der Digitalkamera 1968 (2) und der Serienproduktion einer digitalen Spiegelreflexkamera mit Bildsensor in voller Kleinbildgrösse, ab 2002 Weltfirmen wie Kodak und Agfa wegrationalisiert. Oder geht es den Energieversorgungsunternehmen (EVU) wie dem lokalen Taxi-Gewerbe, welches «out of the blue» von einem 2009 in San Franzisco gegründeten Startup namens Uber konkurrenziert wird?
Nein, beide digitalen Transformationen dienen nicht als Referenzentwicklung für die über 600 Schweizer EVU, welche Wirtschaft und Gesellschaft effizient mit Strom versorgen. Die Beispiele zeigen uns, dass es von der Erfindung bis zur Verbreitung im Massenmarkt lange dauern kann. Bei der Digitalfotografie waren es über 30 Jahre. Und wegen Uber verliert das lokale Taxigewerbe zwar Marktanteile, ist aber lokal oft weiter dominant, während Uber als neuer disruptiver Akteur wohl in einer Nische bleibt.
Wie bei allen bisherigen industriellen Revolutionen bleibt der Treiber auch bei der Digitalisierung die Produktivitätssteigerung, d.h. das Grundprinzip des wirtschaftlichen Wachstums. Seit je gelten «Technologie» und «Innovation» als die produktivitätssteigernden Hebel. Auch in der vierten industriellen Revolution wird dank der Digitalisierung ein weiterer Produktivitäts- und Wachstumsschub erwartet.
Die Energieversorgung wird zunehmend dezentral und komplex. Dazu trägt auch der internationale Einfluss des politisch-regulatorischen Umfelds bei. Der subventionierte Zubau von Produktionskapazitäten in den Bereichen Photovoltaik und Wind mit stochastischer Produktion vergrössert zwar das Angebot von Strom, aber auch die Volatilität. Kommt hinzu, dass sich mit der neusten Entwicklung im Energiesektor eine Sektorkopplung von Strom, Wärme und Mobilität abzeichnet. Energieerzeugung aus Wind und Sonne wird nicht nur für Strom, sondern auch für Autos und Heizungen verwendet. Elektro-Tankstellen und -Heizungen sind schon heute in Gebrauch. Wie stark sie sich durchsetzen hängt wesentlich von der Abnahme der Kosten bei Power-to-X- und Speichertechnologien ab. Das Technologiekonzept «Power-to-X» sieht vor, überschüssig produzierten Strom bei viel Wind und Sonne in andere Energieformen umzuwandeln und zu speichern (z. B. Power-to-Liquid, Power-to-Gas, Power-to-Heat). Durch die Sektorkopplung entstehen multimodale Energieversorgungssysteme. Intelligente und vernetzte Energienetze sind als Schlüssel für diese Sektorkopplung und das Flexibilitätsmanagement sowie für Stabilität und Effizienz im Gesamtsystem unverzichtbar.
Die fortschreitende Digitalisierung von Gesellschaft und Wirtschaft ist abhängig von einer effizienten Versorgung mit Strom, welche ihrerseits abhängig ist von voll vernetzen und ausfallsicheren intelligenten Datenkommunikationssystemen. Dies ist der Kern der Konvergenz von Energiesektor und ICT-Industrie: Ohne Strom keine ICT – ohne ICT kein Strom. Die Transformation in der Energieversorgung fordert sämtliche EVU heraus.
Als Resultat der digitalen Transformation würden physische und virtuelle Welt zu cyber-physischen Systemen zusammenwachsen, sagen Fachleute voraus. Auf Stufe des einzelnen EVU würden dabei Geschäftsprozesse und Kundenschnittstelle digitalisiert. Konkret heisst das: Die Vernetzung der Datenkommunikationssysteme für die Steuerung der Kernprozesse und die Kundenportale gewinnen an Bedeutung. Und: Neue Akteure mit neuen digitalen Geschäftsmodellen drängen auf den Energieversorgungsmarkt, das Geschäft wird mehr und mehr über digitale Plattformen abgewickelt.
Gemäss einer Studie (3) sind digital orientierte Start-ups die Treiber dieser Entwicklung, aber auch branchenfremde Konzerne wie Google und Tesla, die mit aller Macht in den Energiemarkt drängen. 58 Prozent der befragten Unternehmen sehen deshalb die Zukunft konventioneller EVUs bedroht. 32 Prozent glauben, dass bis 2025 jeder vierte deutsche Energieversorger vom Markt verschwindet. 75 Prozent werden ihre Aktivitäten erhöhen, eine Digitalisierungsstrategie erarbeiten und beispielsweise in Business Analytics investieren.
Um das Jahr 2010 hätte man meinen können, dass die Erfindung des «Smart Meter» und des «Smart Grid» die Trigger der digitalen Transformation in der Energieversorgung seien, also im Kernprozess der Übertragung und Verteilung ansetzen werden. Dass heute, acht Jahre später, der flächendeckende Rollout von digitalen Stromzählern noch nicht vollzogen ist und das Übertragungs- und Verteilnetz noch nicht 1:1 der damaligen Vision entsprechen, ist bekannt. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Digitalisierung in diesem Bereich am Anfang steht.
Ganz im Gegenteil: Durch die Ausstattung des Schweizer Übertragungs- und Verteilnetzes mit einem dedizierten Glasfasernetz (4) verfügt die Energieversorgung über ein eigenes leistungsfähiges Breitband-Datennetz. Es erlaubt große Mengen von Daten sicher und schnell zu übertragen. Netzbetreiber wie Axpo sind dabei zu Breitbandkompetenzzentren für Datenübertragung (5) geworden und betreiben voll digitalisierte Energie- und Netzleitstellen, welche den Kraftwerkseinsatz und den Netzbetrieb vollautomatisiert fernsteuern.
Wegen den Anforderungen bezüglich Ausfallsicherheit wurden auch die glasfaserbasierten Datenübertragungsnetze redundant ausgelegt und an allen Netzknoten mit Notstromversorgung ausgerüstet. Dies machte die Datenübertragungsnetze der Energieversorger krisensicher. Selbst im Szenario eines flächendeckenden Blackouts, d.h. bei einem totalen Stromausfall, sind die Datenkommunikationssysteme der Energieversorger noch voll funktionsfähig, ein Fähigkeit die für den Wiederaufbau der Stromversorgung essenziell ist.
Auch der Handel läuft heute in weiten Teilen Europas über die digitalen Handelsplattformen der Energiehändler. Er wird über den European Energy Exchange (6) in Leipzig abgewickelt, ein digitaler Marktplatz für Energie und energienahe Produkte. Die EEX ist mit über 450 Börsenteilnehmern aus derzeit 33 Ländern die führende Energiebörse in Europa.
Energieversorger mit Endkundengeschäft haben für Grossverbraucher (Geschäftskunden) und Privatkunden neue Kundenportale geschaffen. Darauf werden nicht nur Produkt- und Serviceangebote präsentiert, sondern auch Interaktionsfunktionen wie Hotline oder Online Chat (7) angeboten. Das Geschäftsmodell bleibt jedoch grundsätzlich gleich. Diese neuen digitalen Möglichkeiten zur Virtualisierung der Kundenbeziehung und Kundeninteraktion sind noch längst nicht ausgeschöpft. Auch gibt es dabei grosse Unterschiede bei den einzelnen EVU. Für die nächsten Jahre sind in diesem Bereich grosse Fortschritte zu erwarten. So wird der Anteil von digitalen, fernauslesbaren Smart Metern, eine wichtige Grundlage für die digitale Kundeninteraktion, von heute ca. 5 Prozent stark steigen. Bis ein flächendeckender Rollout vollzogen ist, wird es jedoch noch länger dauern.
Eine Studie (8) zeigt, dass der eigene Stand der Digitalisierung von EVU zurückhaltend bewertet wird: 16 Prozent stufen ihn als hoch ein, 50 Prozent als mittel, 34 Prozent als gering. Das klar grösste Potenzial der Digitalisierung wird im Vertrieb gesehen. Innerhalb der Unternehmen beschäftigen sich daher vor allem Vertrieb und Marketing sowie der Netzbereich prioritär mit der Digitalisierung.
Es gibt jedoch einige neue Bereiche, in denen das Potenzial der Digitalisierung noch unterschätzt wird. Der aktuelle Push von Technologiefirmen im Bereich der Sensorik führt zu einem immer breiteren Angebot von Sensoren. Auch ist deren Anbindung längst nicht mehr nur über Festnetzverbindungen möglich, sondern auch über einen drahtlosen Access, z. B. mit der kostengünstigen LoRaWAN-Technologie (9). Dies ermöglicht es etwa, bestehende Strom-, Gas-, Wärme- und Wasserzähler ohne grossen Aufwand ins Datennetz einzubinden zur Zählerfernauslesung. Auch Leiterseile und Kabelmuffen werden mit neuen Sensoren intelligent gemacht. Sensoren, die mit der weiteren Entwicklung des Internet der Dinge in einer schnell wachsenden Zahl verbaut werden, liefern eine wachsende Datenmenge, die über analytische Verfahren ausgewertet zu Effizienz- und Produktivitätssteigerungen bei Kernprozessen der Energieversorgung beitragen, z. B. für «predictive Maintenance».
Mit dem rasanten Preiszerfall bei den Photovoltaik-Modulen entstand ein Pull der privaten PV-Stromproduzenten und ein Push der PV-Systemlieferanten in Richtung regulatorisch liberaler Eigenverbrauchslösungen. Mit den steigenden Strompreisen aufgrund des EEG-Umlageverfahrens und der hohen staatlichen Abgaben hat sich in Deutschland aus Sicht privater Investoren ein sich selbst verstärkender Regelkreis ergeben, welcher nun auf die umliegenden Länder überschwappt. Eigenverbrauchslösungen und -gemeinschaften bedürfen neben klaren vertraglichen und regulatorischen Regelungen günstiger meter-to-cash-Prozesse. Bei Geschwindigkeit, Flexibilität und Kosten stossen die klassischen, eher teuren und schwerfälligen Software-Systeme für die Stromabrechnung an ihre Grenzen und es eröffnet sich ein Markt für neue Anbieter und neue Peer-to-Peer Marktplätze, welche auf Blockchain und Cloud-basierte Systeme setzen. Erste Beispiele weisen darauf hin, dass EVU für die Abrechnung von Eigenverbrauchsgemeinschaften auf externe Anbieter zurückgreifen werden, da sie mit ihren Inhouse-Lösungen nicht wettbewerbsfähig sind.
Erste Erfolge mit neuen digitalen Geschäftsmodellen zeichnen sich ab. Viel wichtiger ist aber, dass allen klar ist, dass es keinen Weg zurück mehr gibt. Die EVU sind zu „normalen“ Unternehmen geworden, die sich in einem Umfeld mit hoher Wettbewerbsintensität, regulatorischer Unsicherheit und raschem Wandel behaupten müssen. Den Weg in die Energiezukunft schafft nur, wer sich fit macht, klare Ziele hat und diese mutig und hartnäckig verfolgt.
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(1) https://www.bfe.admin.ch/bfe/de/home/versorgung/stromversorgung/stromnetze/smart-grids.html Die Smart Grid Roadmap Schweiz wurde vom BFE am 27. März 2015 publiziert.
(2) Eine Serie von Erfindungen war für die Realisierung einer Digitalkamera nötig, die mit der Anmeldung des ersten Patents eines Bildsensors 1968 ihren Anfang nahm.
(3) https://www.pwc.de/de/energiewirtschaft/pwc-studie-deutschlands-energieversorger-werden-digital.html
(4) Bei Freileitungen sind die Glasfasern im Kern des Erdseils eingelegt, bei Erdverkabelungen in separaten Kabelkanälen.
(5) Mit der Übernahme von WZ-Systems AG und Fusion zur Axpo WZ-Systems AG ist ein dediziertes Breitbandkompetenzzentrum für sichere Fest- und Mobilnetz Datenkommunikation entstanden.
(6) Gründung 2002: www.eex.com
(7) Vgl. z. B. www.ckw.ch
(8) https://www.pwc.de/de/energiewirtschaft/pwc-studie-deutschlands-energieversorger-werden-digital.html
(9) LoRaWAN steht für Long Range Wide Area Network und ist eine Funkübermittlung von Daten.
(10) Der Meter-to-Cash (M2C) Prozess ist der für die Energieversorger wichtige Stromabrechnungsprozess mit den Endkunden. Er ist vergleichbar mit dem Auftragsabwicklungsprozess Order-to-Cash (O2C) in der Industrie.
Dieser Text wurde im Asut-Bulletin 07/2017 erstmals veröffentlicht