27.07.2022 | Europäischer Grüner Deal: Fit-for-55-Paket
Die Veröffentlichung des Fit-für-55 Pakets ist der Startschuss für das EU-Gesetzgebungsverfahren, an dem der Rat (EU-Mitgliedstaaten) und das Europäische Parlament beteiligt sind. Voraussichtlich sollen die Verordnungen ab Anfang 2024 in den EU-Mitgliedsstaaten gelten, während die Richtlinien voraussichtlich ab 2025 schrittweise zur Anwendung kommen.
Am 15. Dezember 2021 hat die Europäische Kommission das Fit-für-55 Paket um ein (Erd)Gaspaket ergänzt, dass den Aufbau einer europäischen Wasserstoffwirtschaft und die Dekarbonisierung des EU-Gasbinnenmarktes zum Ziel hat.
Ausgelöst durch den Einmarsch russischer Truppen in der Ukraine hat die Europäische Kommission zudem am 23. März 2022 einen ergänzenden Gesetzgebungsvorschlag zur Mindestfüllung von Erdgasspeicher veröffentlicht, der bereits am 1. Juli 2022 in Kraft trat. Der schnellstmöglichen Unabhängigkeit von russischen fossilen Energieträgern dient der am 18. Mai 2022 veröffentlichte REPowerEU Plan, der die Zielsetzungen des Fit-für-55 Pakets verschärft.
Die Gesetzgebungsverfahren sind aufgrund der geopolitischen Ereignissen und der damit einhergehenden neuen Prioritäten sowie der Überlagerung mit den neuen Gesetzgebungsverfahren langsamer vorangekommen als erwartet. Immerhin ist es der französischen Ratspräsidentschaft gelungen, bis Ende Juni 2022 in den für sie wichtigen Dossiers erste Zwischenergebnisse zu erreichen und die Kompromissverhandlungen im Rahmen des Trilogs zwischen Europäischem Parlament und Rat unter Vorsitz der Europäischen Kommission einzuleiten.
Inhaltlich hat das Europäische Parlament versucht, die Vorschläge der Europäischen Kommission zu überbieten, z. B. mit einem noch höheren Energieeffizienzziel von 40% (Endenergieverbrauch) bzw. 42.5% (Primärenergieverbrauch) bis 2030, der schnelleren Beendigung der Ausgabe von Gratis-Emissionsrechten an die Industrie oder einer Ausweitung des Anwendungsbereichs des CO2-Grenzausgleichsmechanismus, z. B. auf Wasserstoff. Bislang zeichnet sich keine Fundamentalopposition der EU-Mitgliedsstaaten im Rat ab; allerdings stehen die derzeitigen Not-Massnahmen der EU-Mitgliedsstaaten auf nationaler Ebene, wie z. B. die Aussetzung von Umweltstandards und das Wiederanfeuern von Stein- und Braunkohlekraftwerken im Widerspruch zu den Zielsetzungen des Europäischen Grünen Deals. Ob im Rahmen der nun anstehenden Trilog-Verhandlungen Kompromisse zustande kommen, hängt u. a. vom Geschick der seit 1. Juli 2022 laufenden tschechischen Ratspräsidentschaft ab.
Die einzelnen Elemente des Ff55 sind stark miteinander verwoben, um dem Europäischen Parlament, den EU-Mitgliedstaaten und Lobbyisten das Verändern einzelner Elemente zu erschweren. Diese taktische, kluge Vorgehensweise der Europäischen Kommission könnte sich jedoch zum Boomerang entwickeln, da der REPowerEU Plan die Komplexität weiter erhöht hat. Es werde zum gleichen Gesetz - z. B. der Überarbeitung der EU Erneuerbaren-Richtlinie - zwei parallele Gesetzgebungsverfahren laufen. Im Ergebnis drohen Widersprüche.
Erschwerend kommt ein energiepolitischer Paradigmenwechsel hinzu: Während für die Europäische Kommission unter ihrer Präsidentin Ursula von der Leyen bislang die Klimaneutralität bis 2050 im Vordergrund stand, verlangen steigende Energiepreise und die Sorge um einen Unterbruch der Erdgaslieferungen aus Russland nach einer Neuausrichtung der energiepolitischen Prioritäten im Sinn des Energiedreiecks der EU. Hiervon zeugt z. B. die in weniger als vier Monaten vorgelegte und in Kraft getreten Regelung zu Mindestfüllstände von Erdgasspeichern. Das Mantra der Europäischen Kommission ist zwar weiterhin, dass der Ausbau der erneuerbaren Energien und mehr Energieeffizienz die Antwort auf steigende Energiepreise und der Weg in die Energieunabhängigkeit sind. Ob dieses Mantra auch eine schwere Versorgungssicherheitskrise und eine sich anbahnende Wirtschaftskrise überstehen wird, muss sich erst noch zeigen.
Zu den Verlierern gehören die Verfechter liberalisierter Energiemärkte: Spätestens mit dem REPowerEU Plan hat sich die Europäische Kommission für vorübergehend Eingriffe in den Grosshandels- und Endkundenmarkt geöffnet. Insbesondere die von verschiedenen Mitgliedsstaaten geforderte Abkehr vom auf Grenzkostenpreis beruhenden, grenzübergreifen EU Energiebinnenmarkt käme der Rückabwicklung der EU Energiepolitik der letzten zwei Jahrzehnte gleich.
Mit Blick auf die Energiebeziehungen zwischen der Schweiz und der EU barg schon die Priorisierung des Kampfes gegen den Klimawandel Chancen: Die Schweiz teilt die Klimaziele der EU und könnte Teil eines paneuropäischen oder gar globalen "Klima-Clubs" werden, in dem Klimaneutralität relevanter ist als die Schaffung eines Binnenmarktes mit gleich langen Spiessen. Die Schweizer Stromwirtschaft könnte mit ihren Anlagen in der Schweiz wie im Ausland einen wichtigen Beitrag zu den Zielen eines solchen Klima-Clubs leisten. Dies gilt nun im Hinblick auf den Erhalt der Versorgungssicherheit mit Erdgas und die Stabilität des kontinentaleuropäischen Stromverbunds: Das Erdgastransitland und die Stromdrehscheibe Schweiz können zu beidem einen relevanten Beitrag leisten.
Mehr erneuerbare Energien: Das Fit-für-55 Paket wird den Ausbau der erneuerbaren Energien beschleunigen, indem es das EU-Ziel für erneuerbare Energien für 2030 von heute 32% auf 40% und gemäss REPowerEU Plan sogar auf 45% erhöht. Insbesondere sollen Genehmigungsverfahren erleichtert und beschleunigt werden - eines der Haupthindernisse für den Ausbau von Windkraft und Photovoltaik. Zudem soll die Nutzung von grüner Biomasse und die Erhöhung der Speicherkapazität angegangen werden. Gebäude sollen sowohl grüner als auch effizienter werden; der REPowerEU Plan schlägt sogar gestaffelt eine Verpflichtung zur Ausrüstung von Neubauten mit PV-Anlagen vor. In einem zweiten Schritt folgt dann die Verpflichtung zur Nachrüstung von gewerblichen Bestandsgebäuden und von Gebäuden der öffentlichen Hand. Im Luftverkehr ist eine Beimischungsverpflichtung für nachhaltigen Flugkraftstoff (SAF) von 2% ab 2025 vorgesehen.
Verursacherprinzip: Die Überarbeitung des Emissionshandelssystems der EU wird die Anzahl der Emissionsrechte weiter reduzieren, kostenlos ausgegebene Emissionsrechte begrenzen und den Geltungsbereich auf die Schifffahrt ausweiten sowie strengere Regeln für den Luftverkehr einführen. Für Emissionen aus dem Strassenverkehr und den Gebäudebereich schlägt Fit-für-55 getrennte Handelssysteme vor, die zu einem späteren Zeitpunkt in das Emissionshandelssystem der EU integriert werden könnten. Die Reform der Energiesteuern soll gleiche Wettbewerbsbedingungen zwischen erneuerbaren und fossilen Brennstoffen im Verkehr sowie im Gebäudebereich schaffen.
Klima-Protektionismus: Um das Abwandern der Europäischen Industrie zu verhindern, beinhaltet das Fit-für-55 Paket auch einen CO2-Grenzausgleichsmechanismus (carbon border adjustment mechanism), der Importe von Stahl, Aluminium, Zement, Dünger und Elektrizität mit einem Preis belegt, der von ihrer Emissionsintensität abhängt und sich am Preis im Emissionshandelssystem der EU orientiert. Um einen Handelskrieg zu vermeiden, muss mit der Einführung des CO2-Grenzausgleichsmechanismus auch die kostenlose Zuteilung von Emissionsrechten an die Industrie beendet werden. Güter aus der Schweiz sind dank der Kopplung des Schweizer Emissionshandelssystems mit dem Emissionshandelssystem der EU vom Anwendungsbereich des CO2-Grenzausgleichsmechanismus ausgenommen.
Grüne Mobilität: Mit dem Fit-für-55 Paket werden die bestehenden CO2-Emissionsstandards der EU für Kraftfahrzeuge und leichte Nutzfahrzeuge verschärfen. Das Treibhausgasreduktionsziel von 37,5% für 2030 (im Vergleich zu 2021) könnte auf 60% steigen und muss bis 2035 null Emissionen erreichen; damit wird das Ende des Verbrennungsmotors eingeleitet. Für die Zielerreichung ist ein massiver Ausbau der Ladeinfrastruktur erforderlich.
Mehr Effizienz – auch in Gebäuden: Das Fit-für-55 Paket erhöht das derzeit gültige Energieeinsparziel von 32.5% bis 2030 auf 36 – 37% (Endenergieverbrauch) bzw. 39 – 41% (Primärenergieverbrauch); dieses wird im Rahmen des REPowerEU Pakets noch weiter angehoben und zugleich der Referenzrahmen von 2007 auf 2020 abgeändert. Die jährliche Einsparverpflichtung der Mitgliedstaaten, die das Herzstück der Energieeffizienz-Richtlinie bildet, wird von 0.8% pro Jahr auf 1.5% pro Jahr erhöht.
Die schliesslich im Dezember 2021 vorgelegte Vorschlag zur Überarbeitung der EU Gebäudeeffizienz-Richtlinie sieht unter anderem die stufenweise Einführung verbindlicher Mindestvorgaben an die Gesamtenergieeffizienz der energetisch schlechtesten Bestandsgebäude vor.
Erdgasbinnenmarkt: Das im Dezember 2021 veröffentlichte (Erd)Gaspaket zielt auf die Dekarbonisierung des Erdgasbinnenmarktes durch den Einsatz von Biogas und mittels erneuerbarem und dekarbonisiertem Wasserstoff ab. Ein wesentliches Element hierfür ist der Aufbau einer europäischen Wasserstoffwirtschaft auf Grundlage einer neuen Wasserstoffinfrastruktur und durch die Umwidmung der bestehenden Erdgasinfrastruktur. So soll es zukünftig z. B. einen diskriminierungsfreien Netzzugang für unabhängige Produzenten von Wasserstoff geben – wie bereits heute bei Strom und Erdgas. Für dekarbonisierte Moleküle wird eine Datenbank vorgeschlagen, die deren Handelbarkeit sicherstellen soll. Zugleich sollen auch die Verbraucherrechte und die Transparenzanforderungen auf das im Strommarkt geltende Niveau angehoben werden.
Methanemissionen: Die Europäische Kommission hat einen Vorschlag für eine Verordnung zu Methanemissionen im Energiesektor veröffentlicht. Dieser dient der Quantifizierung und der Berichterstattung sowie der Behebung von Undichtigkeiten in der Erdgasinfrastruktur und soll Emissionen des Treibhausgases Methan mindern.