08.01.2021 | Der EU-Acquis entwickelt sich
Der europäische Grüne Deal soll die EU zur Klimaneutralität bis 2050 führen. Das wird auch Folgen für die Schweiz und ihre Energiewirtschaft haben.
Die Europäische Kommission hat am 11. Dezember 2019 ihre Mitteilung zum europäischen Grünen Deal veröffentlicht: Darin werden an die 50 Massnahmen vorgeschlagen, welche zu einer nachhaltigen, ressourcenschonenden und klimaneutralen EU beitragen sollen. Ein Teil der Massnahmen betrifft den Energie- und insbesondere den Strombereich.
Im kommenden Jahr wird die Europäische Kommission eine Vielzahl von Gesetzesvorschlägen vorlegen, unter anderem zur Überarbeitung der Erneuerbare-Energien-Richtlinie, der Energie-Effizienz-Richtlinie, des Emissionshandelssystems, aber auch zur Sektorenintegration, zur Wasserstoffwirtschaft und zur Überarbeitung des Erdgas-Binnenmarktes. Damit ändern sich auch die Parameter und möglicherweise das Regulierungsgefälle zwischen der Schweiz und der EU. Im Hinblick auf die Zusammenarbeit der Schweiz und der EU im Strombereich und ein mögliches Stromabkommen ist das von Bedeutung.
«Die Europäische Union soll bis 2050 klimaneutral werden!» – diesem Ziel dient der europäische Grüne Deal. Politische Grundlage für das 2050er-Ziel ist eine Erklärung der Staats- und Regierungschefs vom Dezember 2019, wonach Europa der erste klimaneutrale Kontinent der Welt werden soll. Einen Vorbehalt hierzu meldete nur der EU-Mitgliedsstaat Polen an: Die Opposition ist nicht grundsätzlicher Natur, sondern bezieht sich auf das Tempo der Dekarbonisierung; es wird sich zeigen, ob die Zustimmung Polens im Laufe der ausstehenden Verhandlungen eingeworben werden kann.
Der europäische Grüne Deal ist die wichtigste der sechs Prioritäten der Europäischen Kommission in der Legislaturperiode 2019–2024. Angesichts der Breite des Massnahmenpakets und der Tragweite der zahlreichen Einzelmassnahmen wird der europäische Grüne Deal zugleich die Rahmenbedingungen für die europäische Energiewirtschaft in den kommenden Jahren, möglicherweise Jahrzehnten bestimmen. Eine besondere Herausforderung besteht darin, dass die geplanten Massnahmen in anderen Politikbereichen verortet sind, aber Kernbereiche der Stromwirtschaft berühren. Beispielhaft sei die Strategie der EU zur nachhaltigen Finanzierung erwähnt, die teilweise sehr detaillierte Vorschriften («delegierte Rechtsakte») zur Bewertung von Erzeugungstechnologien enthält, die Konsequenzen für die (Re-)Finanzierung von Energieprojekten haben. Die Vorschriften wurden aber nicht von der für Energie zuständigen Generaldirektion der Europäischen Kommission und vor allem ohne transparente Einbindung der europäischen Energiewirtschaft erarbeitet.
Kernstück des europäischen Grünen Deals ist das Europäische Klimagesetz: Die Europäische Kommission hatte den entsprechenden Gesetzesvorschlag am 4. März 2020 veröffentlicht.
Er ist in Form einer in den EU-Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbaren Verordnung verfasst. Ziel ist, die Klimaneutralität der EU bis 2050 verpflichtend und unumkehrbar festzuschreiben. Der ursprüngliche Kommissionsvorschlag des Europäischen Klimagesetzes sah ein Zwischenziel von 40 % weniger Treibhausgasemissionen bis 2030 vor; Vergleichsmassstab ist 1990. Anlässlich ihrer Rede zur Lage der Europäischen Union am 16. September 2020 schlug Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen eine Erhöhung des Zwischenziels auf 55 % weniger Treibhausgasemissionen vor und verschärfte nachträglich den eigenen Gesetzesvorschlag.
Hierzu sei erwähnt, dass die Erhöhung auf 55 % eines der Wahlversprechen von Ursula von der Leyen an die Fraktion der Grünen und der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament im Vorfeld ihrer Wahl war. Die Forderung nach der Verschärfung des Treibhausgasminderungsziels der EU bis 2030 wurde vom Europäischen Parlament im Rahmen des derzeit laufenden Gesetzgebungsverfahrens noch überboten: Es fordert eine Reduktion der Treibhausemissionen um 60 %; zudem müsse das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 sowohl von der EU als Ganzes aber auch in jedem einzelnen EU-Mitgliedsstaat erreicht werden. Die EU-Mitgliedsstaaten haben sich bislang noch nicht festgelegt; eine politische Entscheidung wird anlässlich der Sitzung der Regierungs- und Staatschefs der EU-Mitgliedsstaaten, dem Europäischen Rat, am 10. und 11. Dezember 2020 erwartet.
Vor dem Hintergrund der durch die Covid-19-Massnahmen verursachten und fortbestehenden Wirtschaftskrise wurde im Frühjahr 2020 von Teilen der EU-Mitgliedsstaaten eine Aussetzung des europäischen Grünen Deals gefordert. Schliesslich konnte sich im Zusammenhang mit der Bereitstellung von umfangreichen Finanzmitteln ein anderer Ansatz durchsetzen: Die zur Überwindung der Wirtschaftskrise bereitgestellten Mittel sollen zugleich dem Umbau der Europäischen Union im Sinne des europäischen Grünen Deals dienen. Verhandelt wird derzeit über eine leichte Erhöhung des EU-Haushalts für die Zeit von 2021 bis 2027 (mehrjähriger Finanzrahmen) auf 1074 Milliarden Euro. Hierbei ist jedoch zu berücksichtigen, dass der zweitgrösste Beitragszahler, das Vereinigte Königreich, infolge des Brexit entfällt. Um dies auszugleichen, müssen die anderen Nettobeitragszahler höhere Beiträge entrichten. Im Rahmen eines Krisengipfels im Juli 2020 wurden zusätzliche 750 Milliarden Euro für den Wiederaufbau der Wirtschaft bewilligt (EU-Aufbauplan). Entscheidend ist, dass mindestens 30 % der insgesamt 1800 Milliarden Euro in den Klimaschutz beziehungsweise nachhaltige Projekte im Sinne des europäischen Grünen Deals fliessen sollen; politisch gewünschte Projekte könnten mit erheblichen Subventionen rechnen. Der mehrjährige Finanzrahmen 2021–2027 und der EU-Aufbauplan befinden sich aktuell im Gesetzgebungsverfahren der EU.
Derzeit laufen die Vorbereitungen für eine Welle an Gesetzgebungsverfahren zur Umsetzung des europäischen Grünen Deals: Mit der Veröffentlichung der entsprechenden Gesetzesvorschläge durch die Europäische Kommission ist ab Juni 2021 zu rechnen. Hierzu zählen unter anderem Revisionen bestehender Gesetze, die zuletzt im Rahmen des Clean Energy Package überarbeitet wurden, zum Beispiel: die Revision der Erneuerbare-Energien-Richtlinie, die Revision der Energieeffizienz-Richtlinie oder die Revision der Gebäudeenergieeffizienz-Richtlinie. Dabei wird die Europäische Kommission voraussichtlich von den im Clean Energy Package enthaltenen Revisionsklauseln Gebrauch machen, um sowohl das derzeitige Erneuerbare-Energien- Ziel von 32 %-Anteil am Endenergieverbrauch der EU bis 2030 als auch das Energieeffizienzziel von 32,5 % bis 2030 im Vergleich zu 2005 zu verschärfen.
Weitere für Juni 2021 angekündigte Revisionen betreffen das Emissionshandelssystem, die Marktstabilitätsreserve sowie die Energiesteuer-Richtlinie. Hier steht einerseits eine Ausweitung des Emissionshandelssystems auf weitere Bereiche wie Mobilität oder Gebäude an, die bislang nur beschränkte Beiträge zu den Treibhausgasminderungen der EU erbracht haben. Anderseits sollen durch die Revision der Marktstabilitätsreserve extreme Preisausschläge verhindert werden. Die Revision der aus dem Jahr 2003 datierenden Energiesteuer-Richtlinie soll Wettbewerbsverzerrungen zu Gunsten fossiler Treibstoffe beenden.
Darüber hinaus ist auch in folgenden Bereichen mit neuen Gesetzesvorschlägen zu rechnen: Umsetzung der Wasserstoff-Strategie und Aufbau einer EU-Wasserstoffindustrie, Umsetzung der Sektorenintegration, Einführung eines Grenzsteuerausgleichs auf CO2 sowie die Umsetzung der Methanstrategie zur Verringerung der Methanemissionen.
Sehr grosse Erwartungen richten sich an die EU-Wasserstoffindustrie: Diese soll die Dekarbonisierung in jenen Bereichen voranbringen, die den erneuerbaren Energien nicht unmittelbar über die Elektrifizierung zugänglich sind. Dies betrifft insbesondere die Bereiche Schwerindustrie und den Schwertransport auf Strasse, Schiene, Wasser und in der Luft. Die EU geht zudem davon aus, dass der massive Ausbau der erneuerbaren Energien einen erhöhten Bedarf an Speicherlösungen verursachen wird. Durch eine mögliche Kombination von Wasserstoff und der bestehenden Erdgasinfrastruktur könnte insbesondere das Problem saisonaler Speicherung überwunden werden.
In diesem Zusammenhang wird es auch zu einer Überarbeitung des EU-Erdgasbinnenmarktes und des Gasmarktdesigns kommen, um nachhaltigen Molekülen im weitesten Sinne – zum Beispiel grünem Wasserstoff, Biogas, synthetischem Erdgas – durch gezielte Förderung den Markthochlauf zu ermöglichen.
Angesichts der anstehenden Gesetzeswelle darf nicht übersehen werden, dass die Umsetzung des Clean Energy Package und der acht darin enthaltenen Gesetze noch läuft beziehungsweise noch ansteht. Grosse Herausforderungen ergeben sich beispielsweise im Zusammenhang mit der sogenannten 70 %-Klausel aus der seit Anfang 2020 gelten den Strommarkt-Verordnung. Derzeit ist offen, ob und wie die EU-Mitgliedsstaaten das Ziel erreichen werden, bis 2025 70 % der Grenzkapazitäten für den Handel bereit zu stellen. Offen ist derzeit auch, wie sich dies auf die Nutzung der Grenzkapazitäten zur Schweiz und die Stromflüsse im Schweizer Stromnetz auswirken wird.
Weitere Herausforderungen ergeben sich für die Schweizer Stromwirtschaft vor dem Hintergrund der ab 1.Juli 2021 geltenden Revision der Erneuerbare-Energien-Richtlinie: Diese sieht vor, dass EU-Mitgliedsstaaten Herkunftsnachweise von Drittstaaten nur noch anerkennen dürfen, wenn ein Abkommen über die gegenseitige Anerkennung von Herkunftsnachweisen vorliegt. Ein solches liegt zwischen der Schweiz und der EU nicht vor, und es ist davon auszugehen, dass die Europäische Kommission ein solches Abkommen politisch mit der übergeordneten Frage eines Rahmenabkommens verknüpft. Für die Schweizer Stromwirtschaft entfällt damit die EU als Exportmarkt für Schweizer Herkunftsnachweise.
Im Rahmen des europäischen Grünen Deals soll die Art und Weise, wie Europa wirtschaftet, lebt, wohnt, isst und sich bewegt, planmässig auf das Ziel der Klimaneutralität bis 2050 ausgerichtet werden; der Energiesektor nimmt dabei eine zentrale Rolle ein. Der radikale Umbau der Energiewirtschaft, in Verbindung mit den umfangreich zur Verfügung gestellten staatlichen Mitteln und in Kombination mit einer möglichen Aufweichung des Rechts der staatlichen Beihilfen, könnte zu weiteren Marktverzerrungen führen, die auch die Schweizer Stromwirtschaft als Preis-Nehmer treffen.
Zu den positiven Aspekten zählt hingegen die Kopplung des Schweizer Emissionshandelssystems an das Emissionshandelssystem der EU: Sie ist der Beleg dafür, dass die Klimapolitik und -ziele der Schweiz den Ambitionen der EU entsprechen, weswegen einerseits ein möglicher Grenzsteuerausgleich auf CO2 keine Anwendung auf die Schweiz finden sollte. Zugleich ist im Zusammenhang mit dem europäischen Grünen Deal regelmässig die Rede von einem klimaneutralen Kontinent – was die Schweiz miteinschliesst. Hier bieten sich Möglichkeiten der Zusammenarbeit und die Option, die Schweizer Stromwirtschaft und ihre Anlagen – Strom- und Erdgasnetz, Erzeugung und Speicher – sowie deren Beitrag zur Erreichung der Energie- und Klimaziele zur Netzstabilisierung und zur besseren Einbindung Italiens in die liquiden Märkte Nord-West-Europas, im Hinblick auf eine verbesserte zukünftige Zusammenarbeit, in die Waagschale zu werfen.
Autor: Eberhard Röhm-Malcotti ist Leiter Energiepolitik EU bei Axpo.