25.06.2024 | EU-Wahlen
In der Zeit vom 6. bis 9. Juni 2024 fand in den 27 EU-Mitgliedsstaaten die Wahl der 720 Abgeordneten des Europäischen Parlaments für die Legislativperiode von 2024 bis 2029 statt. Die aufgrund der Wahlprognose erwartete Zunahme von Abgeordneten rechts der Mitte ist eingetreten. «Grüne» und «liberale» Parteien müssen Sitzverluste hinnehmen. Die veränderte Zusammensetzung des Parlaments wird die energiepolitische Ausrichtung der EU bestimmen und sich indirekt auch auf die laufenden Verhandlungen über ein mögliches Stromabkommen zwischen der Schweiz und der EU auswirken.
Neben den bereits erwähnten Verschiebungen zugunsten der Mitte-rechts Parteien auf Kosten der Grünen (Grüne/EFA) und der Liberalen (Renew Europe) ist die Stärkung der zentristischen EVP eines der wichtigsten Ergebnisse dieser Wahl. Die EVP hat zwar gegenüber 2019 nur wenige Prozente dazu gewonnen, aufgrund der Verschiebungen hat sie jedoch die Möglichkeit, neue Mehrheiten mit Parteien rechts der Mitte zu organisieren und insbesondere zusammen mit Parteien rechts der Mitte Gesetzesvorhaben zu verhindern. Dies wäre ein Paradigmenwechsel gegenüber der Legislaturperiode 2019 bis 2024: Der von grünen Wahlerfolgen inspirierte European Green Deal und das zugehörige Fit-for-55 Paket wurden überwiegend mit den Stimmen einer Koalition aus EVP, S&D, Renew Europe und Grüne – also Mitte-links - verabschiedet.
Wahlergebnisse
Bei den Wahlen stimmten die EU-Bürger mangels EU-weiter Wahllisten für nationale Parteien. Diese schliessen sich im Europäischen Parlament meist einer bestehenden Fraktion an. Mit Spannung wird erwartet, wie sich die fast 100 fraktionslosen Abgeordneten verhalten werden: Einerseits werben die etablierten Fraktionen um deren Beitritt, andererseits könnten diese auch neue Fraktionen bilden.
Derzeit wird davon ausgegangen, dass eine «grosse Koalition» bestehend aus EVP, S&D und Renew Europe, die über eine knappe rechnerische Mehrheit verfügt, zustande kommt, um die derzeitige und nächste Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen während der konstituierenden Sitzung des Europäischen Parlaments in der Woche vom 16. Juli im Amt zu bestätigen. Diese Koalition wird voraussichtlich keinen darüber hinausgehenden Bestand haben. Stattdessen könnte es zu themenspezifisch wechselnden Koalitionen während der Legislaturperiode von 2024 bis 2029 kommen.
Neben den vielen fraktionslosen Abgeordneten erschweren auch Ein- und Austritte von Abgeordneten in bzw. aus etablierten Fraktionen und die Belastbarkeit des sogenannten «Cordon sanitaire» (die Weigerung linker Fraktionen mit Fraktionen am rechten Rand zusammenarbeiten) die Vorhersehbarkeit der Mehrheitsverhältnisse.
Im Hinblick auf die Energiepolitik hat insbesondere die Schrumpfung der Grünen Fraktion Signalwirkung: Diese sind nicht nur mit weniger Abgeordneten im Parlament vertreten, das schlechtere Wahlergebnis gegenüber 2019 signalisiert den anderen Parteien auch, dass grüne Themen ausgereizt sind. Während die EU-Energiepolitik die letzten fünf Jahre Teil der EU-Klimapolitik war, könnte sie nun wieder eigenständig werden oder der Rückgewinnung der Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union dienen. Die EU-Energiepolitik würde damit Teil der EU-Industriepolitik. Da die Europäische Kommission der laufenden und weiter drohenden Abwanderung der Industrie Einhalt gebieten möchte, könnte es z. B. zu Gesetzesvorschlägen zur Senkung der Industriestrompreise kommen.
Neben der Neuausrichtung der politischen Prioritäten der EU im Energiebereich, stellt sich auch die Frage nach dem weiteren Umgang mit dem European Green Deal und dem Fit-for-55-Paket: Das Fit-for-55-Paket richtet den Bestand der EU-Energiegesetzgebung auf das Ziel einer Treibhausgasminderung von 55% bis ins Jahr 2030 aus (verglichen mit 1990). Eine Schwächung der 2030-Ziele der EU bezüglich Treibhausgasminderung (55%), Ausbau der erneuerbaren Energien (Anteil am Energieverbrauch: 42.5% + 2.5%) und Energieeffizienz (11% im Vergleich zum Referenzszenario 2020) ist zwar theoretisch möglich, müsste aber von der Europäischen Kommission vorgeschlagen werden. Angesichts des hohen Reputationsverlusts erscheint dies unwahrscheinlich.
Das Fit-for-55-Paket und das im Zusammenhang mit der Energiekrise überarbeitete EU-Strommarktdesign bedürfen jedoch noch umfangreicher Umsetzungsgesetzgebung auf EU-Ebene bzw. der nationalen Umsetzung. Die geänderten politischen Rahmenbedingungen könnten dazu führen, dass die Umsetzungsgesetzgebung durch das Europäische Parlament verwässert bzw. verzögert wird.
Im Februar 2024 hatte die Europäische Industrie mit der Antwerp Declaration ein 10-Punkte-Programm vorgelegt: Zu den Massnahmen, die eine weitere Abwanderung der europäischen Industrie verhindern sollen, gehört u. a. die Forderung nach kostengünstiger und jederzeit verfügbarer Energie. Die zwischenzeitlich von mehr als 1000 Unternehmen unterzeichnete Erklärung wird im Brüsseler Meinungsbildungsprozess durch den sogenannten Letta-Bericht zur Stärkung des EU-Binnenmarktes und dem sogenannten Draghi-Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der EU untermauert (wird voraussichtlich im Juli veröffentlicht). Insgesamt ist davon auszugehen, dass die Industriepolitik in der Europäischen Union in den Vordergrund tritt, ergänzt um Massnahmen zur Stärkung der Unabhängigkeit der EU bezüglich des Imports von (grüner) Technologie aus Drittstaaten.
Vor dem Hintergrund einer möglichen Eskalation des Ukrainekonflikts dürfte es auch zu politischen und gesetzgeberischen Initiativen zur Stärkung des Rüstungssektors kommen. Dies könnte insbesondere bedeuten, dass weniger EU-Gelder der Umsetzung des European Green Deal zugutekommen. Der schwelende Handelsstreit der EU mit China könnte dazu führen, dass der Import von preiswerter grüner Technologie aus China verteuert und die Erreichung der erneuerbaren Ziele der EU erschwert wird.
Die klimapolitische Haltung des neugewählten Parlaments wird im Gesetzgebungsverfahren zur Festlegung des EU-Treibhausgasminderungsziels für 2040 zum Ausdruck kommen. Im Februar 2024 hatte die Europäische Kommission in einer Folgenabschätzung für Treibhausgasminderungen von mindestens 90% bis 2040 plädiert. Mit dem entsprechenden Gesetzesvorschlag der neuen Europäischen Kommission ist voraussichtlich in der ersten Jahreshälfte 2025 zu rechnen.
Ein weiteres wichtiges Signal könnte die Aussetzung oder Verzögerung des gemäss Fit-for-55-Pakets für 2035 geplanten Verbots der Neuzulassung von Personenwagen mit Verbrennungsmotor sein. Insbesondere die EVP-Fraktion ist versucht, den Kritikern des European Green Deals hiermit den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ähnlich umstritten ist ein möglicher Aktionsplan für Wärmepumpen der Europäischen Kommission und das Verbot fossiler Heizungen.
Neben der Entscheidung über den Präsidenten der Europäischen Kommission, der bei der strategischen Ausrichtung der EU, der Besetzung der weiteren 26 Kommissionsmitglieder und der Festlegung von deren Aufgabenbereich eine wichtige Rolle spielt, ist aus Sicht der Energiewirtschaft der zukünftige Energie- und Klimakommissar (sofern in einer Person vereint) von Bedeutung. Bislang hat sich nur Teresa Ribera, die derzeitige sozialdemokratische Energieministerin Spaniens, selbst ins Gespräch gebracht: Sie kritisierte eine mögliche Aufweichung der Klimaziele durch Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Ribera hat sich sowohl in Spanien als auch in der EU für anspruchsvolle Klimaziele und den Ausbau der erneuerbaren Energien eingesetzt. Gegen sie spricht eine eher marktkritische Haltung, die insbesondere im Rahmen der Reform des EU-Strommarktdesigns zum Ausdruck kam, und im Ergebnis nur abgemildert Eingang in die Gesetzgebung gefunden hat.
Formal bedarf die nächste Europäische Kommission – die z. B. über die Umsetzung des Fit-for-55-Pakets wachen muss - der Zustimmung des Europäischen Parlaments: Das Europäische Parlament könnte einem bezüglich der 2030-Ziele zu ehrgeizigen Energie- und Klimakommissar die Zustimmung verweigern.
Im Zusammenhang mit der erwähnten Antwerp Declaration könnte es auch zur Schaffung eine EU-Industrie-Kommissars kommen, der dem Energie- und Klima-Kommissar übergeordnet wäre. Ein möglicher Kandidat für dieses Amt ist der derzeitige Vizepräsident Maroš Šefčovič (Slowakei, Renew Europe), der derzeit auch für die Verhandlungen mit der Schweiz zuständig ist.
Obwohl die Mehrheit der Abgeordneten neu gewählt wurde, schafften viele Schwergewischte der Energiepolitik den Wiedereinzug in das Parlament. Sie werden versuchen, für den Energie-Ausschuss (ITRE) und den Umwelt-Ausschuss (ENVI) benannt zu werden; während der ITRE sich um Energie- und Industriepolitik kümmert, ist der ENVI u. a. für die Klimapolitik zuständig.
Zu diesen Abgeordneten gehören z. B.:
Anlässlich der Tagung des Europäischen Rates am 27. und 28. Juni sollen die Staats- und Regierungschefs der EU ihre Entscheidung betreffend den nächsten Kommissionspräsidenten bekannt geben und über die strategische Ausrichtung der EU-Politik in den kommenden 5 Jahre entscheiden.
Nach der Benennung des Kommissionspräsidenten durch den Europäischen Rat, muss der Kandidat das Europäische Parlament überzeugen, dass ihn entweder bestätigen oder ablehnen kann. Hiermit ist in der ersten Sitzungswoche des Europäischen Parlaments (ab 16. Juli) zu rechnen. In dieser Woche wählt das Parlament auch seinen Präsidenten, voraussichtlich wieder die amtierende Parlamentspräsidentin Roberta Metsola (EVP, Malta), bildet Ausschüsse und besetzt diese. Ab diesem Zeitpunkt wird auch klar sein, welche Abgeordneten sich in Zukunft mit Energie- und Klimapolitik und mit den Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU befassen werden.
Erfolgt die Bestätigung, beginnt der frisch gebackene Kommissionspräsident mit der Zusammenstellung der 27-köpfigen Europäischen Kommission. Im Jahr 2019 hatte Ursula von der Leyen die Mitgliedsstaaten dazu aufgefordert, je zwei Kandidaten vorzuschlagen - eine Frau und einen Mann. Frühestens ab Oktober müssen sich die 26 Kandidaten einzeln den Fragen der Abgeordneten stellen, wobei üblicherweise ein oder zwei Kandidaten scheitern. Schliesslich stimmt das Parlament in einer Abstimmung über die gesamte Kommission ab, die sie nur geschlossen bestätigen oder ablehnen kann. Bei Bestätigung nimmt die neue Kommission ihre Arbeit auf.
Im Jahr 2019 zog sich dieser Prozess bis Ende des Jahres. Angesichts möglicher neuer Koalitionen im Europäischen Parlament und der geplanten Neuwahlen in Frankreich, könnte es dieses Mal noch länger dauern.
Am 18. März 2024 erfolgte der Auftakt zu den offiziellen Verhandlungen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union über die sogenannte Paketlösung. Hierzu gehört auch ein mögliches Stromabkommen zwischen der Schweiz und der EU. Die Verhandlungen orientieren sich am «Common Understanding» vom 27. Oktober 2023, das die wichtigsten Themen und – wo vorhanden – den Gleichlauf der Positionen von Schweiz und EU beschreibt. Es enthält auch ein Zieldatum für den Abschluss der Verhandlungen: Ende 2024. Die offiziellen Verhandlungsmandate von Schweiz und Europäischer Union wurden am 8., respektive 12. März 2024 verabschiedet.
Seit dem 18. März gehören die Verhandlungen damit zu den «laufenden Geschäften», die von der derzeitigen Europäischen Kommission kommissarisch weitergeführt werden, bis die neue Kommission ernannt ist. Im Übrigen liegt die Verhandlungsführung im Wesentlichen bei den Beamten der Europäischen Kommission, die vom Ausgang der Europäischen Wahlen weitestgehend verschont sind.
Das Europäische Parlament soll zwar von der verhandlungsführenden Europäischen Kommission über den Fortgang der Verhandlungen auf dem Laufenden gehalten werden, eine Einbindung erfolgt jedoch erst zu einem späteren Zeitpunkt: Das Mitwirkungsrecht des Europäischen Parlaments beschränkt sich auf die Genehmigung der Verhandlungsergebnisse, nicht aber auf die inhaltliche Gestaltung derselben, die beim Rat (= Gremium der EU-Mitgliedsstaaten) liegt.
Im Ergebnis dürften die Wahlen des Europäischen Parlaments daher nur geringen Einfluss auf ein mögliches Stromabkommen haben. Die Verschiebung nach Mitte-rechts könnte aber möglicherweise die Begeisterung der EU-freundlichen Schweizer Parteien nach einer stärkeren Einbindung in die EU-Politik bremsen.
Hintergrundwissen Europäisches Parlament
Das Europäische Parlament ist das Parlament der Europäischen Union Es wird seit 1979 alle fünf Jahre in allgemeinen, unmittelbaren, freien, geheimen von den Bürgern der EU gewählt. Damit ist das Europäische Parlament das einzige direkt gewählte Organ der Europäischen Union und die einzige direkt gewählte supranationale Institution weltweit.
Im Unterschied zu den Parlamenten in der Schweiz und in den EU-Mitgliedsstaaten kann das Europäische Parlament keinen Gesetzgebungsverfahren initiieren. Dies ist in der Europäischen Union der Europäischen Kommission vorbehalten.
Die Zahl der Sitze im Plenarsaal des Europäischen Parlaments stieg von 705 auf 720. Da die Wahlen in jedem Land auf der Grundlage nationaler Kandidatenlisten stattfinden und nicht auf der Grundlage einheitlicher EU-weiter Kandidatenliste, wird den EU-Mitgliedsstaaten ein feste Anzahl Abgeordneter zugewiesen: So wählen die Einwohner des bevölkerungsreichsten EU-Mitgliedsstaats Deutschland (84.4 Mio. Einwohner) 96 Abgeordnete ins Europäische Parlament; der kleinste EU-Mitgliedssaat Malta (0.5 Mio. Einwohner) 6 Abgeordnete. Zum Vergleich: Das von der Einwohnerzahl her mit der Schweiz (8.8 Mio. Einwohner) vergleichbare Österreich (9.1 Mio. Einwohner) entsendet 19 Abgeordnete in das Europäische Parlament.
Gemäss der Geschäftsordnung des Parlaments müssen die für die Mehrheitsbeschaffung wichtigen Fraktionen aus jeweils mindestens 23 Mitgliedern bestehen, die in mindestens sieben verschiedenen Mitgliedstaaten gewählt wurden.
Weiterführend Informationen:
Antwerp Declaration:
https://antwerp-declaration.eu/
Letta-Report:
https://www.consilium.europa.eu/media/ny3j24sm/much-more-than-a-market-report-by-enrico-letta.pdf
Draghi-Report (still to be released)